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Forschungen zur Spätwikingerzeit: Archäologen starten mit deutsch-ukrainischem Grabungsprojekt

Internationale Kooperation zu „Baltische Migranten an der Ostgrenze der Kiever Rus“

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Archäologische Ausgrabungen des Ostriv und ihre Teilnehmer, August 2022
Archäologische Ausgrabungen des Ostriv und ihre Teilnehmer, August 2022
Hufeisenfibel vom westbaltischen Typ, entdeckt bei Ostrivs Ausgrabungen im August 2022
Hufeisenfibel vom westbaltischen Typ, entdeckt bei Ostrivs Ausgrabungen im August 2022
Am Fundplatz gefundener bronzener Armreif
Am Fundplatz gefundener bronzener Armreif © ZBSA / Roman Shiroukhov
Luftaufnahme mit einem Fluss
Fundplatz Ostriv am Ros © ZBSA / Roman Shiroukhov

Im August ist in der Ukraine ein interdisziplinäres Forschungsprojekt der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften in Kiew und des Zentrums für Baltische und Skandinavische Archäologie (ZBSA) mit Sitz in Schleswig gestartet. Funde aus einem mittelalterlichen Gräberfeld etwa 100 Kilometer südlich von Kiew sollen in den kommenden drei Jahren Aufschluss darüber geben, wie und wieso Menschen aus dem Baltikum im 11. Jahrhundert an die Grenze des Kiewer Reichs gekommen waren und wie das Leben in dieser Grenzregion zwischen verschiedenen Kultursphären ausgesehen hat. 

Als der Archäologe Dr. Jens Schneeweiß im Februar dieses Jahres federführend für die verschiedenen Institutionen das Forschungsprojekt auf den Weg brachte, hätte er nicht für möglich gehalten, dass der Ausgrabungsort kurz darauf in einem Kriegsgebiet liegen würde. Kaum hatte der Wissenschaftler am ZBSA seinen Antrag auf Förderung bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) eingereicht, marschierte die russische Armee am 24. Februar 2022 in die Ukraine ein. „Wir haben dann unseren Antrag um ein weiteres Schreiben ergänzt, um deutlich zu machen, dass wir unbedingt an diesem Projekt festhalten wollen – und sei es mit Einschränkungen bei der Feldforschung.“ Denn wenn sich die Arbeitshypothesen des deutsch-ukrainischen Teams bestätigen, haben die Expertinnen und Experten dort eine wissenschaftliche Sensation entdeckt: Anhand der Funde aus dem 11. Jahrhundert könnte sich belegen lassen, dass baltische Migranten an der Südgrenze des Kiewer Reichs zur Grenzsicherung gegen Reitervölker aus den Steppen eingesetzt wurden. Diese Aufgabe konnte damals durchaus mit Prestige verbunden sein. Bisher gab es dazu nur schriftliche Quellen, die jetzt anhand der Funde neu bewertet werden können. „Wir erfahren ganz viel über ethnische Probleme, über Fremde in unterschiedlichen Gesellschaften und über deren Integration. Themen, die uns auch heute beschäftigen“, sagt Jens Schneeweiß. 

Im Oktober 2017 entdeckten Forscher des Kiewer Archäologischen Instituts zwischen den Siedlungen Ostriv und Pugačivka das mittelalterliche Gräberfeld mit Körperbestattungen, das als eine der wichtigsten Entdeckungen in der postsowjetischen ukrainischen Archäologie zu bezeichnen ist. Eine daraufhin unternommene Pilotstudie, an der das ZBSA maßgeblich beteiligt war, hatte bereits Erfolg. Kernziel des jetzt gestarteten Vorhabens, an dem aus Schleswig-Holstein auch die Christian-Albrechts-Universität Kiel beteiligt ist, ist die Klärung der historischen Umstände der auf dem Gräberfeld von Ostriv nachgewiesenen Verbindungen ins Baltikum und der Rolle der Migranten bei der Sicherung der Grenze der Rus’. Dr. Roman Shiroukhov (ZBSA), einer der Initiatoren der Ostriv-Pilotstudie, koordiniert die Forschungen auf deutscher Seite und im Baltikum. Das interdisziplinäre Vorhaben verbindet zahlreiche zum gegenwärtigen Zeitpunkt vorhandene Methoden und Verfahren: archäologische Feldforschung, typochronologische, historische und historiographische Untersuchungen, anthropologische und aDNA-Analysen, Radiokarbondatierungen sowie weitere naturwissenschaftliche Analysen. 

Freilich hat sich die Planung und die Art der internationalen Zusammenarbeit anders gestaltet, als es sich die Initiatoren einmal vorgestellt hatten. Zurzeit ist es unmöglich für die deutschen Wissenschaftler, in die Ukraine zu reisen und dort gemeinsam mit dem ukrainischen Team zu graben. Und die ukrainischen Kollegen ihrerseits dürfen wegen ihrer Wehrfähigkeit nicht ihr Land verlassen. Sie haben nun zwar mit deutscher Unterstützung, aber allein vor Ort mit den Ausgrabungen begonnen; die internationale Beteiligung und gemeinsame Auswertung findet mit digitaler Kommunikation statt. Das Gräberfeld in der Zentralukraine liege in einem Gebiet, in dem zurzeit nicht gekämpft. „Unsere ukrainischen Kollegen können besser als wir entscheiden, ob Grabungen möglich sind und würden sich nicht in Gefahr bringen.“ Jens Schneeweiß unterstreicht die wissenschaftspolitische Verantwortung archäologischer Forschung: „Die wissenschaftliche Kooperation erhält in unsicheren und Krisenzeiten eine zusätzliche kulturpolitische Relevanz, derer wir uns voll und ganz bewusst sind.“

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